Annette Krebs – unberechenbar und aufregend
Die zeitgenössische Improvisationsszene bevölkern eigenwillige und charismatische Künstlertypen. Sie sind besessen von ihren musikalischen Visionen. „Irgendetwas“ zu spielen ist nur scheinbar leicht. Leicht ist es, nachzuahmen. Zu denjenigen, die ganz in ihre Suche versenkt sind und unerschütterlich ihren Visionen folgen, gehört Annette Krebs.
Gitarre spielen wollte sie schon seit ihrem vierten Lebensjahr, doch erst mit elf Jahren erfüllte sich ihr dieser Traum. Ihr erster Lehrer war ein Jazzmusiker, der sie eher praktisch führte und ihr die Grundlagen verschiedenster Stilrichtungen vermittelte. Von Anfang an machte sie Improvisations- und Kompositionsversuche – Lieder über die Schule und die Dinge um sie herum. Mit sechzehn schrieb sie eigene Protestsongs, spielte ein wenig Rock, ein wenig dies und das. Als die Zeit für ein Studium gekommen war, entschied sie sich für klassische Gitarre. Jazz und moderne Musik interessierten sie anfangs nicht, moderne Kunst dafür umso mehr: Sie malte, war fasziniert vom Dadaismus, von Schwitters’ Merz u.a. Sie versuchte zu spielen, was sie malte, zu malen, was sie spielte. Davon, dass das andere ähnlich machten, hatte sie zu dieser Zeit keine Ahnung.
In Frankfurt, wo sie damals Gitarre studierte, bemühte sie sich auch, in die authentische Interpretation barocker Musik vorzudringen, entdeckte die europäische Tradition und komponierte intensiv. Gleichzeitig jedoch lockte sie die Abstraktion – die bildnerische wie die musikalische. In ihren eigenen Kompositionen blieb sie bei reinen Tönen, aus denen sie ihre „abstrakten“ Melodien bildete.
Nun ist Frankfurt eine musikalisch sehr lebendige Stadt und Annette Krebs nahm hier alles in sich auf, was um sie herum vorging: Konzerte zeitgenössischer Musik, Jam Sessions und gemeinsame Improvisationen und Debatten mit anderen Musikern. Als sie schließlich nach Berlin zog, begann sie aus der Welt der klassischen Musik auszubrechen: Erst versuchte sie, ihre Gitarre in einen informellen Kontext zu setzen – sie spielte klassisches Repertoire in Kneipen, was geradezu surrealistisch wirkte –, bald aber suchte sie auch einen anderen Zugang zum Instrument selbst. Sie hielt es zwischen den Knien wie ein Violoncello und verringerte die Zahl der Saiten. So begann sie ganz natürlich auch die elektrische Gitarre zu verwenden. Sie untersuchte unermüdlich die Möglichkeiten anderer Spielweisen, bis sie schließlich die Gitarre einfach auf den Tisch legte. Das hatte durchaus praktische Vorteile: Alle „Kästchen“ und das Mischpult waren so zur Hand. Ähnlich wie Keith Rowe entwickelte sie eine gewissermaßen „bildhauerische“ Herangehensweise an ihr Instrument. Doch die hierdurch entstandene Distanz begann sie mit der Zeit zu stören, so dass sie die Gitarre zuletzt auf die Knie legte, um den unmittelbaren Kontakt zum Instrument zu verstärken. Obwohl die Spielweise im Prinzip gleich blieb, war das Spielgefühl ein völlig anderes; das Instrument war so viel leichter zu beherrschen. Die Palette der Instrumental- und Zusatzklänge dehnte sie in alle Richtungen aus – selbst wer Annette Krebs spielen sieht, kann kaum sagen, welche aus ihrer Gitarre stammen und welche nicht.
Im multikulturellen und musikalisch vibrierenden Berlin schloss sie sich der florierenden Improvisationsszene an. Die Liste derer, mit denen sie zusammengearbeitet hat, ist imposant: Chris Abrahams, Natasha Anderson, Alessandro Bosetti, Burkhard Beins, Sandra Becker, Lucio Capece, Peter Cusack, Chris Dahlgren, Rhodri Davies, Jim Denley, Axel Dörner, Robin Hayward, Marcus Heesch, Charlotte Hug, Sven-Ake Johansson, Christoph Kurzmann, Sachiko M, Kaffe Matthews, Wade Matthews, Chico Mello, Toshimaru Nakamura, Andrea Neumann, Bhob Rainey, Michael Renkel, Ana Maria Rodriguez, Keith Rowe, Ignatz Schick, Burkhard Stangl, Taku Sugimoto, Luca Venitucci, Michael Vorfeld, Marc Wastell, Steffi Weismann, Otomo Yoshihide...
Im Jahre 2000 entstand das siebenköpfige Ensemble Phosphor, in dem Annette Krebs auf Burkhard Beins (Schlagzeug), Axel Dörner (Trompete und Laptop), Robin Hayward (Tuba), Andrea Neumann ("Inside-Piano", Mischpult), Michael Renkel (akustische Gitarre, Laptop) und Ignaz Schick (Elektronik, Grammophon) traf. Sie alle verband das Bedürfnis nach erhöhter Konzentration des musikalischen Ausdrucks und das Bemühen um klangliche Klarheit und Transparenz. An die Stelle dichten Klanggewebes trat die Stille als Ausgangspunkt. Die Klangereignisse und –Phänomene wurden sorgsam im imaginären Raum positioniert und ihre Beziehungen untereinander (Lautstärken, Charakter, Klangbeginn und -Ende, ihre Kontraste, Übergänge und Kollisionen) akribisch durchdacht und mit Blick auf die Ausgewogenheit des Ganzen präzise dosiert. Da diese Klänge meist sehr leise waren, öffnete sich hier ein breites Spektrum "mikroskopischer" Lautstärkeveränderungen. Für den Zuhörer bedeutete dies eine erheblich erweiterte Hörerfahrung. Wenn diese ausdrücklich "reduktionistische Phase" Phospors auch nur einige Jahre dauerte und allmählich einem breiteren Ausdrucksspektrum wich – eine gewisse Transparenz des Klangs und Sensibilität für seine wirkungsvolle Dosierung blieb. Phosphor ist ein einzigartiges Ensemble, das einen ganz ungewöhnlichen eigenen Klang entwickelt hat. Anstelle der üblichen ausufernden improvisatorischen Zügellosigkeit und Exhibitionismus stellen seine Mitglieder Mäßigkeit und Nüchternheit. Dennoch zeichnet sich ihr Zusammenspiel durch einen hohen Grad an Spannung und Überraschung aus. Es vermittelt ein Gefühl von Freiheit und Präzision gleichzeitig; die einzelnen Musiker ergänzen sich dabei auf geradezu magische Weise.
Außerhalb von Phosphor tritt Annette oft allein oder mit anderen Musikerkollegen auf. Der japanische Gitarrist Taku Sugimoto oder der italienische Saxofonist Alessandro Bossetti stehen ihr nahe. Einige Jahre trat sie im Duo mit Andrea Neumann auf, in Wien spielt sie mit Christoph Kurzmann und Burkhard Stangl. Außerdem arbeitet sie zusammen mit Sandra Becker oder Steffi Weissmann an deren Videoprojekten. Gemeinsam mit letzterer hat sie z.B. eine witzige Variation zum Thema „Entfremdung/Entwendung“ mit dem Titel Le vol 1-3 geschaffen, eine Parodie auf Popmusikvideos, in der die beiden Autorinnen zu den Klängen von „Recyclingmusik“ einen fröhlichen Raubzug im Kaufhaus unternehmen.
Die Musik Annette Krebs’ ist voller gegensätzlicher Eigenschaften: Einerseits ist sie „asketisch“ – sie arbeitet mit großen Portionen von Stille und zarten Geräuschen. Auf ihrer CD Guitar Solo (Fringes Recordings, 2002) ist der erste normale Gitarrenklang erst nach etwa sechs Minuten zu hören. Andererseits ist sie sehr reichhaltig – sie arbeitet nicht nur mit unterschiedlich transformierten Gitarrenklängen, sondern auch mit Laptop, Radio oder Kassettenrecorder, aus denen u.a. Bruchstücke der realen Welt dringen (Gesprächsfetzen, verschiedene Klangumgebungen usw.). Annette Krebs lehrt uns, immer und immer wieder aufmerksam dem zu lauschen, was wir längst zu kennen meinten. Auch den gewöhnlichsten Klang sind wir neu zu bewerten gezwungen. Ihre Musik gleitet geschmeidig in jene geheimnisvolle Lücke zwischen Leben und Kunst, von der einst Robert Rauschenberg gesprochen hat. Annette Krebs ist eine charismatische Persönlichkeit, die immer für eine Überraschung gut ist. Ihr Spiel ist voller unvorhersehbarer Unterbrechungen, plötzlicher Ausbrüche und zitternder Erregung.
Die Konzerttätigkeit von A. Krebs umfasst alle Erdteile außer der Antarktis und reicht bis zu interdisziplinären Projekten im Grenzbereich zwischen Musik, bildender Kunst, Tanz, Literatur und Video. Auf dem Festival Exposition Neuer Musik 2008 im Klub Fléda in Brno, wo sie am 3. März mit dem heute schon legendären Improvisationsensemble Phosphor auftritt, werden wir uns von ihrer Kunst überzeugen können.
Jaroslav Štastný