“Kleine Klänge und Geräusche bewegen sich in ihrer Musik, verstecken sich wie Staubratten hier und da in den Ecken. Aber sie leuchten auch, weil sie Spuren von jemandem sind. Wie Haare oder Fingerabdrücke. Sie bewegen sich nur ein wenig, aber sie sind da und schaffen Schattierungen und ein fast unmerkliches Schattenspiel.
Diese Stimmen die auftauchen sind unerwartet, aber auch komisch und bewegend, und sie sind eine Art Verlängerung des Unbemerkten, das ja auch die Struktur schafft. Was nur leicht spürbar ist. Verschiedene Extreme, gewiss, aber sie sind ja Echos derselben Erscheinung, die ich als Jemand beschreiben möchte; ein Here Comes Everybody – laut Joyce. (HCE= aus Finnegans Wake)
Dieser HCE sei sicher Krebs selbst. So empfinde und höre ich diese Spannung. Und beim Aufmachen der Fenster – Geräusche ausserhalb des Studios hineinlassend – fühle und höre ich, dass ich mich in demselben Raum befinde. Ich sitze nebenan. Oder umgekehrt. Draussen passiert das andere Leben. Geknister, Rauschen und der akustisch wie auch elektronisch fleckige Klang von fast nicht hörbaren Schichten war nie deutlicher als hier. Es ist ein Platz wo ich mich gern befinde. HCE und ich wechseln dabei in dem selben Raum unaufhörlich die Identität (und überhaupt). Krebs schafft dabei ein inneres Gespräch in dem Du und Ich, Ich und sie, nicht zu trennen sind. Es geht darum sich selbst im Spiegelbild des anderen zu entdecken, es geht um die Anrede.
Vielleicht klingt es zu hochtrabend und von der musikalischen Praxis weit entfernt. Aber ihre Musik spielt sich zwischen fast kaum spürbaren Ablagerungen und plötzlichen und unerwarteten Augenblicken ab. Und nicht nur zwischen – sie öffnet diesmal auch parallele Räume, was eine neue Art schöner Verwirrung schafft. (…)
Annette Krebs neues Werk steht unwidersprochen und unwiderstehlich da, und ist außerdem ein Höhepunkt in der Gegenwartsmusik. Sie fordert sich immer selbst heraus. Kaum ein anderer Spieler vermag das, die meisten sind damit zufrieden sich selbst zu ähneln. Sie aber nicht. Der Begriff Experiment ist missbraucht, aber passt gut hier. Weil sie immer wieder ihre eigene Praxis in Frage stellt und dabei auf einer Ebene, die, wie gesagt, fast einmalig ist. Keine Treue sich selbst gegenüber – oder vielleicht eben das. Sie weiß es besser, als bei sich selbst und ihrer Vorstellung zu bleiben – alles muss veränderbar sein.”

Originaltext in Schwedisch über rush! von Thomas Millroth, SoundOfMusic, SE, 2014
Deutsche Übersetzung: Thomas Millroth
Lektorat: Sven- Åke Johansson

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Konstruktion#4 - 2022

Über die Serie Konstruktion#

Seit 2013 entwickelt und bespielt Annette Krebs elektroakustische Assemblagen aus hochverstärkten Metallen, Saiten, Objekten und Mikrofonen. Sie entstanden aus der Notwendigkeit heraus, Klangvisionen, die mit traditionellen Instrumenten und Setups nicht gespielt werden konnten, zu realisieren. Wie durch ein Mikroskop werden durch Mikrofone feinste, ansonsten unhörbare Klangschattierungen und Farbigkeiten der Soundobjekte hörbar gemacht. Die Serie Konstruktion vereinigt analoge und digitale Techniken und Spielweisen. Die Signale der manuell angespielten Soundobjekte werden über Tablets gesteuert, transformiert und ähnlich verschiedener Farben die ineinanderfließen, sich durchmischen oder nebeneinander stehen bleiben, musikalisch collagiert.

Kurzbiographie

Annette Krebs wurde im Saarland geboren und lebt seit 1993 in Berlin. Seit ihrer Kindheit spielt sie zahlreiche Instrumente und beschäftigt sich mit bildender Kunst. Ihr Musikstudium schloß sie an der HfMDK in Frankfurt am Main ab. Bevor sie mit der Entwicklung der Serie Konstruktion begann, dekonstruierte sie musikalisch nach und nach ihr Ursprungsinstrument Gitarre. Mit ihrer ersten Solo CD “guitar solo” (“Fringes Recordings”, IT) wurde sie 2002 in der Zeitschrift “The Wire- adventures in modern music” (UK) portraitiert. Ihre letzte Gitarrenkomposition “rush”, eine akustische Collage, die die Klänge der Gitarre bis auf ein letztes Schaben und Knacken reduziert, erschien 2014 auf dem Label “Another Timbre – The Berlin Series no.2″(UK).

Sie tritt als Solistin und innerhalb verschiedener Besetzungen weltweit auf Konzerten und Festivals auf (u.a. “100 Jahre Bauhaus-Das Eröffnungsfestival”; “Donaueschinger Musiktage”; “Heroines Of Sound Festival” ; “Kontakte – Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst”).
Ihre Musik wurde im Rahmen zahlreicher Stipendien (u.a. “Senatsverwaltung für Kultur und Europa”, Berlin; “Goethe-Institut”; “Cité Internationale des Arts Paris”; “Akademie der Künste”, Berlin; “EMS Elektronmusik Studion”, Stockholm) gefördert und im Rundfunk und der Presse vorgestellt (u.a. “Positionen-Texte zur aktuellen Musik”, “Deutschlandradio Kultur”, “WDR-3”, “BR Klassik”)

Photo by Udo Siegfried | Audiovisionen 2020, Berlin